Kammerschleuse [1]

[312] Kammerschleuse, ein Bauwerk zwischen zwei verschieden hoch gelegenen Niveaus eines schiffbaren Gewässers (Kanal, Flußlaufs) bezw. zwischen einem solchen und dem Meere oder einem See. Es bildet ein Wasserbecken (Schleusenkammer, Kammer), dessen Durchfahrtsöffnungen durch Tore verschließbar sind und je nach Bedarf mit der tieferen oder höheren Wasserfläche, dem Unter- oder Oberwasser, derart in Verbindung gesetzt werden können, daß den Fahrzeugen die Ein- und Ausfahrt ermöglicht wird.[312]

Die Kammer, welche zur Aufnahme von Schiffen, meist nur eines einzigen, dient, wird bei geschlossenen Toren durch besondere, verschließbare Kanäle (Umläufe) oder durch in den Toren angebrachte, verschließbare Oeffnungen (Torschützen) gefüllt oder entleert, so daß das eingefahrene Schiff durch den darin Zeigenden oder fallenden Wasserstand vertikal gehoben bezw. gesenkt wird und dann bei ausgeglichenem Wasserspiegel – nach Oeffnung des entsprechenden Tores – in das Ober- bezw. Unterwasser ausfahren kann. Der Höhenunterschied zwischen Ober- und Unterwasser heißt das Schleusengefälle.

Die erste Erwähnung einer Schiffahrtsschleuse – es ist jedoch unsicher, ob es eine bloße schiffbare Stauschleuse (s.d.) oder eine Kammerschleuse war – geschieht in einer Urkunde Wilhelms II. von Holland vom Jahre 1253. Die erste Kammerschleuse in Italien ist 1439 von Philippe Visconti in der Nähe von Mailand konstruiert worden. Die Beschreibung einer Kammerschleuse von Leone Battiste Alberti aus dem Jahre 1450, so auch der Bau einer solchen von Leonardo da Vinci im Kanäle von San Christoforo bei Mailand im Jahre 1509 gehören also schon einer späteren Zeit an.

Die wichtigsten Teile bezw. Bezeichnungen an einer gewöhnlichen Kammerschleuse (Fig. 1) sind: a die Schleusenkammer mit dem Schleusenboden a' als Sohle und den Schleusenwänden a'' zur seitlichen Begrenzung; b1 und b2 sind die Schleusenhäupter; b1 das Ober-, b2 das Unterhaupt, c die Abfallmauer oder der Abfallboden. Die Verschlußvorrichtung in jedem Schleusenhaupte heißt im allgemeinen Schleusentor, und zwar d1 Obertor, d2 Untertor, e die Torkammer, der zur Bewegung des Tores nötige Raum, deren Sohle der Torkammerboden. Die nutzbare Länge der Kammerschleuse l reicht vom Abfallboden bis zu der Linie e' e', welche den freien Bewegungsraum für das Untertor begrenzt. f ist der Drempel, d.i. die Schwelle, an welche sich die Unterkante, und g die Wendenische, an welche sich die Wendesäule des geschlossenen zweiflügeligen, vertikalen Drehtores anlehnt, h die Torkammernische oder Tornische zur Aufnahme der aufgeschlagenen Torflügel. i Dammfalze zum allfälligen Einlegen von Dammbalken behufs Absperrung des Wassers bei Reparaturen, k der Umlaufkanal oder Umlauf, m Stichkanäle, dieselben sind die Verbindungskanäle zwischen Umlauf und Kammer und haben den Zweck, ein ruhiges Heben oder Senken der Fahrzeuge zu ermöglichen.

Treffen verschiedenartige Wasserwege, wie Kanal, Fluß oder die See, an der Kammerschleuse zusammen, so werden deren Häupter auch als Binnen- bezw. Außenhaupt bezeichnet [5], [6].

Statt der in Fig. 1 gekennzeichneten zweiflügeligen Tore (Stemmtore) können auch andre Tore angewendet werden; s. Schleusentor. Wenn der Wasserstand bald auf der einen, bald auf der andern Seite höher ist, kommen in einem oder in beiden Häuptern einer Kammerschleuse Doppeltore vor, d.h. zwei Torpaare, welche nach entgegengesetzten Seiten aufgehen oder kehren (Fig. 2); dies wird z.B. an der Abzweigungsstelle eines Kanales von einem Flusse nötig, wo nur das Hochwasser desselben höher als der Kanalspiegel ist, so daß hier das hinzukommende Hochwasser vom Eintritt in den Kanal abzuhalten ist, also die Aufgabe einer Schutzschleuse (s.d.) zu erfüllen hat.

Das Füllen oder Entleeren der Kammer erfolgt bei Schleusen älterer Konstruktion oder bei neueren Schleusen mit kleinem Gefälle nur mit Hilfe der Torschützen, eventuell werden zu diesem Zwecke in den[313] Häuptern nur kurze, die Tore umgehende Umlaufskanäle angeordnet. Letztere finden bei nicht allzu großen Gefällshöhen auch für moderne Schleusen Anwendung, wenn dieselben zur Aufnahme mehrerer Schiffe (Zug- oder Convoischleusen) bestimmt sind, da hier mit Rücksicht auf den großen Kammerquerschnitt keine schädliche Einwirkung des konzentriert einströmenden Wassers auf die Fahrzeuge zu befürchten ist.

Als Verschlußvorrichtung für die Umlaufkanäle dienen Schützen, und man unterscheidet je nach der Anordnung und Konstruktionsart derselben vertikale (Fig. 3) und horizontale (Fig. 4) Schützen, Zylinderschützen (Fig. 5), dann Dreh-, (Fig. 6), Klapp- und Segmentschützen (Fig. 6a), wozu in neuerer Zeit eine Absperrvorrichtung mittels Hebern (System Hotopp) getreten ist.

Schleusen, die zur Aufnahme mehrerer größerer Schiffe dienen sollen (Zug- oder Convoischleusen), stattet man entweder mit größerer Breite aus (Fig. 7), in welchem Falle man die Häupter in der Fahrtrichtung gegeneinander versetzt, um die Fahrtfolge der Schiffe aufrechtzuerhalten, oder man gibt denselben eine mehrfache Schiffslänge. In letzterem Falle kann man auch durch Einbau eines Mittelhauptes die Kammer unterteilen, um einzelne Schiffe rascher und mit geringem Wasserverbrauch durchschleusen zu können (Fig. 8).

Bei der Kanalisierung der Moldau ist man von der Einschaltung eines Mittelhauptes in die Zugschleuse wieder abgekommen und ordnete neben der letzteren eine einfache Kammerschleuse (Parallelschleuse, s.d.) an (Fig. 9). Zwei durch eine Mittelmauer getrennte, gleichgroße Schleusen werden auch Zwillingsschleusen genannt. Schleusen von größerem Gefälle, bei welchen das Unterhaupt überwölbt wird, nennt man Schachtschleusen (s.d.) Sind größere Höhenunterschiede zwischen Ober- und Unterwasser an einer Stelle zu[314] überwinden, so werden statt einer einzigen Schachtschleuse vielfach mehrere Kammerschleusen unmittelbar hintereinander derart angeordnet, daß das Unterhaupt einer oberen Schleuse zugleich das Oberhaupt der unteren ist (Kuppelscheuse, Schleusentreppe, s.d.).

Die Wasserversorgung einer Schleuse erfolgt im allgemeinen aus der oberen Haltung. Behufs Wasserersparnis ordnet man entweder ein oder mehrere neben der Kammer liegende Sparbecken (s.d.) an oder verwendet bei Zwillingsschleusen die zweite Kammer zu dem bezeichneten Zwecke, endlich kann auch das Verbrauchswasser einer Schleuse aus der unteren Haltung in die obere Haltung aufgepumpt werden.

Die Zeit für das Füllen oder Entleeren (Füllungs- oder Entleerungszeit T in Sekunden) einer Schleusenkammer durch Torschütze wird nach der Formel


Kammerschleuse [1]

berechnet, wobei [315] A die Oberfläche der Kammer, A1 den Gesamtquerschnitt der Schützenöffnungen und μ den Ausflußkoeffizienten (ungefähr 0,62) bedeuten. Bei Verwendung von Umläufen ist dieselbe Formel zu benutzen, wobei wegen der in diesem Falle auftretenden Reibungs- und Krümmungswiderstände in den Umläufen für μ der Wert zwischen 0,60 bis 0,55 schwankt. Mit Schleusungsdauer bezeichnet man die Zeit, welche ein Schiff zum Durchfahren einer Schleuse benötigt.

Die Abmessungen einer Kammerschleuse richten sich nach der Größe und Tauchtiefe der durchzuschleusenden Schiffe. Das Schleusengefälle hängt von der Terrainkonfiguration und der verfügbaren Wassermenge ab und wird – um größere Haltungslängen zu erzielen – möglichst groß gewählt. Die meist übliche Höhe der Kammerschleuse wechselt zwischen 2,5 bis 5,0 m. Das größte bisher mittels einer Schleuse überwundene Gefälle beträgt rund 10,0 m. (Schleuse von La Vilette im Kanal St. Denis 9,92 m und Schleuse bei Horin an der kanalisierten Moldau 8,9–10,9 m.)


Literatur: [1] Franzius, Der Wasserbau, 2. Abt., 2. Hälfte, Schleusen, Schiffahrtskanäle, Leipzig 1895 u. 1904. – [2] Zeitschr. d. Oesterr. Ing.- u. Arch.-Ver. 1891, S. 1; ebend. 1897, Ueber die Arbeiten zur Umwandlung des Wiener Donaukanals in einen Handels- und Winterhafen; ebend. 1906, Der Bau des Lateralkanales von Wranan nach Horin an der Moldau. – Konstruktionszeichnungen von Kammerschleusen: [3] Zeichensammlung der Ecole des ponts et chaussées, Serie V, Sektion D, Paris. – [4] Zeitschr. f. Bauwesen 1880, Tafel 38; ebend. 1888, Taf. 35. – [5] Ebend. 1886, Tafel 29 und 63, und Jahrg. 1901 u. 1902 (Der Bau des Dortmund-Ems-Kanals). – [6] Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1866, Tafel 348; ebend. 1888, Tafel 24. – S.a. Kanalisierung der Flüsse [1]–[7] u. Schiffahrtskanäle; Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1899 u. 1900 (Die Hotoppschen Betriebseinrichtungen der Schleusen des Elbe-Trave-Kanales und der Elbe-Trave-Kanal).

Pachnik.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 5.
Fig. 6., Fig. 6a.
Fig. 6., Fig. 6a.
Fig. 7., Fig. 8., Fig. 8a.
Fig. 7., Fig. 8., Fig. 8a.
Fig. 9.
Fig. 9.
Fig. 9a.
Fig. 9a.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 312-316.
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